9.

 

Und inmitten der Nacht brennt und glüht heiß ein Stern
 Wenn die Glocke schlägt Mitternacht nah und doch fern.

 

Nie wieder. Niemals im Leben wieder.« Matt fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und sah die Drake-Schwestern finster an. »Ich schwöre es dir, Kate, das wirst du nie wieder tun.« Er lief unruhig im Wohnzimmer auf und ab.

Sarah, Kates älteste Schwester, hatte ihren Kopf an das Knie ihres Verlobten gelehnt und beobachtete Matt schweigend. Abbey saß auf dem Sofa und hielt Joleys Kopf auf ihrem Schoß. Joley lag mit geschlossenen Augen ausgestreckt da und schien trotz seines entrüsteten Wortschwalls zu schlafen. Hannah lag auf dem Sofa, das dem Fenster am nächsten stand, und die Erschöpfung hatte deutliche Spuren auf ihrem jungen Gesicht hinterlassen.

»Es nutzt nicht das Geringste, wenn du dich darüber aufregst«, sagte Jonas. »Sie tun ja doch, was sie wollen, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden.«

Sarah seufzte laut. »Fang nicht schon wieder damit an, Jonas. Das ist nicht wahr und du weißt selbst, dass es nicht wahr ist. Wenn du derjenige wärest, der versuchen würde, uns dieses Ding vom Hals zu schaffen, dann würdest du dir auch keine Sorgen um deine eigene Sicherheit machen. Das weißt du nur zu gut. Du tätest genau das, was getan werden müsste.«

»Das ist etwas anderes, Sarah«, fauchte Jonas sie an. »Verdammt noch mal, so geht es doch nicht. Sieh dir Hannah an.

Sie kann sich nicht mal mehr rühren. Ich glaube, sie braucht einen Arzt. Wo zum Teufel steckt Libby, wenn wir sie brauchen?«

»Wann hörst du endlich auf, uns zu beschimpfen?«, fragte Sarah. Sie rieb ihr Gesicht an Damons Knie. »Hannah braucht ihre Ruhe und vielleicht eine Tasse Tee.«

»Ich koche Tee«, erbot sich Damon. »Ich glaube, einen Tee könnt ihr jetzt alle gebrauchen.«

»Damon, du bist ein Schatz«, sagte Sarah. »Das Wasser kocht schon.«

Matt warf einen Blick in die Küche und selbstverständlich quoll Dampf aus dem Kessel. Dabei wusste er ganz genau, dass vor wenigen Minuten noch nicht einmal das Gas unter dem Kessel gebrannt hatte.

Damon beugte sich hinunter, um Sarah einen Kuss auf die Schläfe zu hauchen, bevor er sich auf den Weg in die Küche machte. »Es kommt mir vor wie in alten Zeiten«, rief er, als er die Hand nach dem Tee ausstreckte, der nur bei solchen Gelegenheiten Verwendung fand.

»Eine etwas festlichere Stimmung könnte uns bestimmt nicht schaden«, beschloss Abigail. Sie sah die Reihe von Kerzen, die auf dem Kaminsims standen, fest an, bis die Dochte Feuer fingen, im ersten Moment flackerten und dann ruhig brannten. Sofort breitete sich ein würziger Duft im Raum aus, eine Mischung aus Zimt und Zedern.

»Eine gute Idee«, stimmte Sarah ihr zu und sah den CD-Spieler an. Augenblicklich erfüllte Joleys Stimme den Raum mit einem beliebten Weihnachtslied.

»Das doch nicht«, protestierte Joley. »Lieber etwas anderes.«

»Seid ihr alle verrückt geworden?«, brauste Jonas auf. »Kate könnte tot sein. Viel hat nicht gefehlt. Sollen wir jetzt etwa so tun, als sei das alles nicht passiert, und eine kleine Weihnachtsfeier veranstalten?«

»Jonas, es hat keinen Zweck, die Frauen anzuschreien. Was erwartest du denn von ihnen?« Damon kam gerade mit einem Tablett zurück, auf dem mehrere Tassen Tee standen. Er verteilte sie an die Drake-Schwestern.

»Und dabei warst du doch derjenige, der mich gebeten hat, nein, der mir vorgeschrieben hat, rauszugehen und den Nebel aufzuhalten«, hob Kate hervor.

Jonas murmelte leise etwas Unflätiges vor sich hin. Dann bückte er sich und nahm Hannahs schlaffes Handgelenk, um ihr den Puls zu messen. Während er das tat, kam im Zimmer eine Brise auf und ließ seinen Hut von dem Stuhl segeln, auf dem er ihn abgelegt hatte. Er landete mitten im Zimmer auf dem Fußboden. Jonas richtete sich abrupt auf und blickte finster auf Hannah hinunter, die sich nicht rührte.

»Jonas, wir wussten nicht, dass die Wesenheit versuchen würde, Kate etwas anzutun«, hob Abbey hervor. »Wir müssen die Motive erst noch ergründen.«

Sarah schob ein schweres Buch über den Fußboden. »Dieses Ding ohne Elle zu lesen ist unmöglich. Wir brauchen es gar nicht erst zu versuchen. Sie ist die Einzige, die diese Sprache lesen kann, die von unseren Ahninnen benutzt wurde. Der gesamte Text ist in dieser eigenartigen Hieroglyphensprache abgefasst, die wir als Teenager alle hätten lernen sollen. Mom hat immer wieder gesagt, wir müssten uns dieses Wissen aneignen, aber wir haben es ständig vor uns hergeschoben und uns gefragt, wozu es gut sein sollte, so tief in der Vergangenheit zu stöbern. Mit dem Wenigen, das wir gelernt haben, ist es uns unmöglich, in diesem unglaublichen Wälzer einen ganz bestimmten Eintrag zu finden.«

Matt stellte sein rastloses Umherlaufen ein, blieb neben Kate stehen und legte eine Hand auf ihren Nacken. »Elle ist bereits auf dem Heimweg, nicht wahr? Lange kann es nicht mehr dauern. Wie kommt es, dass sie die Sprache gelernt hat, wenn ihr Übrigen nur einen leisen Schimmer davon habt?«

Abbey pustete in ihren Tee. »Sie hat sie gelernt, um sie der nächsten Generation beizubringen, ebenso wie unsere Mutter.«

»Da wir gerade von Elle sprechen, wie hat sie sich mit dir in Verbindung gesetzt, Jackson? Woher wusste sie, dass du in die Schattenwelt gehen und Kate rausholen kannst?«, fragte Sarah.

Plötzlich herrschte undurchdringliches Schweigen und sämtliche Blicke wandten sich dem Mann zu, der still und regungslos neben dem Fenster saß. Seine kalten, düsteren Augen glitten über ihre Gesichter und unterzogen sie einer grüblerischen Prüfung. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich kenne Elle überhaupt nicht.«

Abbey setzte sich aufrechter hin. »Das entspricht nicht der Wahrheit, Jackson.«

Jonas schnappte hörbar nach Luft. »Tu das nicht, Abbey!« Seine Warnung kam einen Herzschlag zu spät. Sie hatte die Worte bereits ausgesprochen, in exakt dem richtigen Tonfall, um das Innerste der Menschen nach außen zu kehren, in ihre finstersten Tiefen vorzudringen und ihnen die Wahrheit zu entreißen.

Jacksons Augen waren so hart wie Stahl, als er langsam aufstand. Er bewegte sich vollkommen geräuschlos durch das Zimmer. Joley setzte sich auf und sah ihn blinzelnd an. Matt stellte sich neben Abbey und Jonas bezog seinen Posten auf ihrer anderen Seite. Jackson ignorierte die beiden Männer und beugte sich hinunter, bis er mit Abbey auf einer Augenhöhe war. »Ich rate dir, mich niemals nach der Wahrheit zu fragen, Abbey. Nicht über mich und nicht über Elle.« Er hatte seine Stimme nicht erhoben, doch Abbey erschauerte. Joley legte einen Arm um ihre Schwester.

»Ich warte draußen«, sagte Jackson.

»Er ist Elle nie begegnet«, sagte Sarah, nachdem sich die Tür hinter dem Deputy geschlossen hatte. »Jonas, das stimmt doch, oder?«

»Meines Wissens kennt er sie nicht. Und er hat sie mir gegenüber auch nie erwähnt. Sie hatten beide denselben Alptraum, aber das trifft auch auf die Hälfte aller Kinder in Sea Haven zu.«

»Er jagt mir Angst ein«, sagte Abbey. »Ich will nicht, dass Elle auch nur in seine Nähe kommt. Sie ist so winzig und fragil und reizend. Und er ist...«

»Mein Freund«, sagte Jonas. »Er hat mir zweimal das Leben gerettet, Abbey.«

»Und mir auch«, schloss sich Matt an. »Das hättest du nicht tun sollen.«

Abbey schlug die Augen nieder. »Ich weiß. Ich weiß selbst nicht, warum ich es getan habe. Aber er ist so beängstigend und die Vorstellung, dass Elle auch dort draußen in der Schattenwelt war ...«

»Aber das war sie doch gar nicht«, fiel Kate ihr ins Wort. »Sie war nicht da. Ich habe ihre Stimme gehört, aber sie war nicht in dieser Welt, die Stimme war in meinem Kopf.« Plötzlich dämmerte ihr etwas. Die Schwestern tauschten lange Blicke miteinander aus. »Jonas, ist Jackson telepathisch veranlagt?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«, fragte Jonas.

»Weil du es selbst gewissermaßen bist.« Die Schwestern sahen einander wieder an und brachen in Gelächter aus. Ihr glockenhelles Lachen verscheuchte die trübsinnige Stimmung, die sich über das Zimmer herabgesenkt hatte.

Jonas schnitt Matt eine Grimasse. »Siehst du jetzt, was ich mir bieten lassen muss?« Er stapfte durch das Zimmer und bückte sich, um seinen Hut aufzuheben. Bevor seine Finger die Krempe zu fassen bekamen, ließ ein abrupter Windstoß die Flammen der Kerzen flackern und der Hut flog davon und landete bedenklich nah am Kamin. Jonas richtete sich langsam auf, stemmte die Arme in die Hüften und sah die Drake-Schwestern der Reihe nach argwöhnisch an. Auf sämtlichen Gesichtern stand ein unschuldiger Ausdruck. »Kein Mensch kann mich glauben machen, dass dieser Windstoß von allein ins Haus gekommen ist und niemand nachgeholfen hat.«

Die Scheite im Kamin loderten unerwartet heftig. Jonas machte einen Schritt auf seinen Hut zu. In dem Moment stellte der Hut sich auf und rollte auf seiner Krempe ein paar Zentimeter näher zu den brennenden Holzscheiten. »Ich kann euch nur raten, meinen Hut nicht in dieses Feuer fliegen zu lassen«, sagte Jonas mit einem warnenden Unterton.

»Also wirklich, Jonas«, sagte Joley, ohne die Augen zu öffnen. »Du wirst zunehmend paranoider. Hannah schläft.«

Er musterte weiterhin eindringlich ihre Gesichter und ging schließlich auf das Sofa zu, auf dem Hannah lag und im Schlaf nahezu kindlich wirkte. »Ich bringe das Babypüppchen ins Bett. Da ist es am besten aufgehoben.« Er hob Hannah mit einer flinken Bewegung hoch und marschierte aus dem Zimmer, bevor jemand Einwände erheben konnte.

»Das Turmzimmer«, rief Sarah ihm nach.

»Das wundert mich gar nicht. Ich kann mir Hannah blendend als Prinzessin in ihrem Turm vorstellen«, rief Jonas zurück.

Die Schwestern sahen einander an und brachen in Gelächter aus. Matt schüttelte den Kopf. »Ihr seid wirklich alle zum Fürchten.«

Joley lehnte ihren Kopf zurück und grinste ihn an. »Ich wüsste zu gern, was ihr beide so ganz allein in deinem Haus treibt, meine Schwester und du. Ich hatte eigentlich vor, Hannah dabei zu helfen, einen Liebestrank zu mixen und ihn das nächste Mal, wenn ich dich sehe, in dein Getränk zu schütten, aber mir wurde berichtet, das sei nicht mehr nötig.«

Die Röte, die sich in Kates Gesicht ausbreitete, hatte einen ganz besonders kleidsamen Farbton. »Joley Drake, zu diesem Thema wirst du fortan deinen vorlauten Mund halten.«

Joley wirkte von dem strengen Tonfall keineswegs beeindruckt. »Falls es jemanden interessieren sollte, ich habe mir Kates Hals ganz genau angesehen und sie hat einen enorm beeindruckenden Knutschfleck.«

Kate legte sofort eine Hand auf ihren Hals und schüttelte den Kopf. »Das stimmt überhaupt nicht. Trink deinen Tee.«

»Aber noch beeindruckender ist«, fuhr Joley fort, »dass Matt auch einen prachtvollen Knutschfleck aufzuweisen scheint.«

Ein kollektives Keuchen ertönte. »Wir wollen ihn sehen, Matt«, bettelte Abigail.

»Nur, wenn ich die Schneekugel halten darf und einen Wunsch frei habe«, feilschte er.

Augenblicklich trat Stille ein. Sarah setzte sich aufrechter hin. »Matt«, sagte sie zögernd und warf einen Blick auf Kate. »Das ist nicht so, als äußerte man leichtfertig einen unklugen Wunsch. Unsere Schneekugel ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit. Du musst genau wissen, was du willst, und du musst es wirklich ernst meinen. Du musst deine Entscheidung sehr sorgfältig abgewägt haben.«

»Ich kann dir beteuern, dass ich das getan habe. Wenn ihr den Knutschfleck sehen wollt, dann müsst ihr schon die Schneekugel rausrücken.« Matt verschränkte die Arme vor seiner Brust.

»Matt«, mischte sich Kate warnend ein, »falls du mit dem Gedanken spielen solltest, dir etwas zu wünschen, worüber wir bereits geredet haben – tu es nicht. Es würde nicht klappen.«

Joley hob ihren Kopf von der Rückenlehne des Sofas und sah beide an. »Das klingt hochinteressant. Möchte sonst noch jemand eine Kleinigkeit zum Naschen zum Tee? Ich hätte nämlich wirklich Lust auf diese verzierten Zuckerplätzchen.« Sie wedelte mit einer Hand in Richtung Küche. »Erzähle uns Genaueres, Matt. Die Schneekugel steht dort drüben, gleich neben dem Kamin. Und sei so lieb, tritt auf dem Weg auf Jonas' Hut. Es bringt immer einen gewissen Schwung in unser Leben, wenn er seine Nummer als Sheriff und Macho abzieht.« Sie wandte ihren Kopf zur Treppe um. »Er ist schon ziemlich lange dort oben. Er wird doch wohl den Umstand, dass Hannah schläft, nicht ausnutzen, oder?«

Sarah trat Joley liebevoll. »Du bist einfach furchtbar, Joley.«

Matt machte einen Bogen um Jonas' Hut und streckte die Hände nach der Schneekugel aus. Sie fühlte sich sehr stabil an. Er warf einen Blick auf Kate. Sie schüttelte den Kopf und wirkte ängstlich. Die Kugel wärmte sich in seinen Händen an. Er sah gebannt hinein und beobachtete die Schneeflocken, die um das Haus herum wirbelten, bis sie sich alle zusammentaten und sich zu Nebel verdichteten. Die Lichter auf dem Baum gingen an.

»Du hast sie aktiviert«, sagte Sarah. »Das ist nahezu unmöglich.«

»Es sei denn, er ist...«

»Joley!«, fiel Kate ihrer Schwester mit scharfer Stimme ins Wort. »Matt, im Ernst, damit spielt man nicht.«

»So ernst war mir noch nie etwas. Sag mir, was ich tun muss.« Er sah Sarah an.

Sie warf einen Blick auf Kate und zuckte dann die Achseln. »Es ist relativ einfach, Matt, aber du musst dir deiner Sache sicher sein. Du schaust in den Nebel, malst dir das aus, woran dir mehr liegt als an allem anderen auf Erden, und dann wünschst du es dir. Wenn du die Voraussetzungen erfüllst, wird die Kugel dir deinen Wunsch gewähren.«

»Und das funktioniert?«

»Der Überlieferung nach funktioniert es. Familienangehörigen

ist ein Wunsch im Jahr gestattet, mehr nicht. Und du darfst niemandem etwas Böses wünschen.«

»Deshalb erlauben wir Jonas nicht, sie auch nur zu berühren«, sagte Joley.

Matt atmete tief den Duft der Kerzen und den köstlichen Geruch der frisch gebackenen Plätzchen ein, der aus der Küche hereinwehte. Er hinterfragte nicht, wer die Plätzchen gebacken hatte. Ihn überraschte nicht einmal der Umstand, dass die Plätzchen fertig waren. Er starrte in den Nebel im Innern der Schneekugel und beschwor das exakte Ebenbild von Kate herauf. Dann konzentrierte er sich mit Körper, Geist und Seele ausschließlich auf seinen Wunsch. Der Nebel verharrte einen Moment lang regungslos, kreiste dann schneller und löste sich auf, bis die Kugel wieder ganz klar und durchsichtig war und die Lichter auf dem Baum erloschen. Er stellte die Kugel behutsam ins Regal zurück und grinste Kate an.

»Wir können nur hoffen, dass du weißt, was du tust«, sagte Joley.

Matt, der plötzlich wesentlich besser gelaunt war, sah sie mit einem strahlenden Lächeln an. »Auf die Gefahr hin, dass ich mich anhöre wie ein Fan, der für dich schwärmt – ich liebe deine Blues-Aufnahmen. Du hast die perfekte Stimme für den Blues.« Er grinste schelmisch. »Für Weihnachtslieder übrigens auch.«

Joley zuckte zusammen. »Die habe ich nur zum Spaß für meine Familie aufgenommen.«

»Sie sind wunderschön«, sagte Abbey. »Macht dir die Tournee Spaß?«

Joley zog die Stirn in Falten. »Ja, es ist zwar ermüdend und es treiben sich immer irgendwelche Spinner herum, aber die Energie von vierzigtausend Konzertbesuchern ist einfach unvergleichlich. «

»Was für Spinner?«, erkundigte sich Jonas, der gerade wieder das Wohnzimmer betrat. »Hannah ist nicht aufgewacht, noch nicht einmal, als ich sie Barbie-Puppe genannt habe. Bist du sicher, dass ihr nichts fehlt, Sarah?«

Sarah ging einen Moment lang in sich und trat in Kontakt zu ihrer Schwester. »Sie ist erschöpft, Jonas, und sie braucht Schlaf. Wir werden uns nur bald etwas einfallen lassen müssen, um ihr Nahrung einzuflößen.«

Jonas verdrehte die Augen. »Wir können doch nicht zulassen, dass Miss Anorexia auch nur ein paar Gramm zunimmt. Wahrscheinlich macht sie sich Sorgen, dass die Kamera sie dann nicht mehr liebt und sie nicht mehr halbnackt auf den Titelbildern von Illustrierten posieren und sich vor aller Welt zur Schau stellen kann.«

Kate warf ihre Serviette nach Jonas. »Geh weg, du ärgerst mich. Wir brauchen alle einen klaren Kopf, um zu entscheiden, wie wir dieses Problem anpacken, und du versuchst nur, uns alle auf die Palme zu bringen.«

Jonas zuckte gänzlich ungerührt die Achseln. »Ich muss mich ohnehin wieder an die Arbeit machen. Aber ich will wissen, was es mit diesen Spinnern auf sich hat, von denen du redest, Joley. Du hast doch nicht etwa Ärger mit Irren, die dir auflauern, oder?«

Joley trank einen Schluck Tee und blickte zu Jonas auf. »Ich weiß es nicht. Ich habe zwei Leibwächter engagiert. Eigentlich sind sie eher Rausschmeißer, und ich will nur, dass sie die Bühne bewachen. Natürlich gibt es in jedem Konzertsaal Sicherheitskräfte, aber ich dachte, wenn die beiden gemeinsam mit uns reisen, haben wir noch etwas mehr zusätzlichen Schutz. Stalker gehören in meiner Branche nun mal dazu, das weißt du doch selbst. Je berühmter man wird, desto mehr Verrückte lockt man an.«

Matt setzte sich neben Kate. »Haben Schriftstellerinnen auch diese Probleme?«

Bevor Kate eine Chance hatte, es abzustreiten, antwortete Jonas an ihrer Stelle. »Selbstverständlich. Jeder, der im Licht der Öffentlichkeit steht, hat diese Probleme, Matt. Autoren, Musiker, Politiker und ... Supermodels«, sagte er mit einem Blick auf die Treppe.

Joley lachte. »Du machst dir so viele Sorgen, Jonas, dass du wirklich zur Polizei gehen solltest. Der Beruf würde dir liegen.«

»Ha, ha, sehr komisch. Ich rufe später an, um zu sehen, ob es etwas Neues gibt.« Jonas sah aus dem Fenster. »Ich hätte nie geglaubt, dass mir mal vor dem Einbruch der Dunkelheit grauen könnte.«

Matthew sah ebenfalls aus dem Fenster und auf das tosende Meer. »Erwartet ihr Elle heute Abend noch zurück?«

»Sie hat gesagt, sie käme etwa um Mitternacht. Sie landet in San Francisco und nimmt sich für die Fahrt hierher einen Mietwagen. Ich habe angeboten, sie abzuholen«, sagte Abbey, »aber sie wollte nicht, dass eine von uns bei diesem dichten Nebel Auto fährt. Sie hat versprochen, sich mit der Wetterwarte in Verbindung zu setzen, bevor sie nach Sea Haven fährt.«

Jonas hob seinen Hut auf. »Ich werde die Augen nach ihr offen halten. Und ihr ruht euch alle aus und handelt euch keine Scherereien ein.« Er ging und knallte die Tür hinter sich zu.

Auf Sarahs Drängen hin zog sich Damon in die Küche zurück und forderte Matt auf, mitzukommen.

Abbey wartete, bis die Männer das Wohnzimmer verlassen hatten. »Ich hatte nicht die Absicht, Jackson derart zu provozieren.« Sie presste sich die Hände auf den Mund und ihre Augen waren riesig. »Das ist jetzt schon das zweite Mal. Und das Haus hätte mich beschützen sollen. Wie konnte das in unserem eigenen Haus passieren?«

»Du warst entspannt«, sagte Sarah. »Du hast in deiner Wachsamkeit nachgelassen.«

Abbey schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Moment lang in meiner Wachsamkeit nachgelassen, seit ich beim Treffen des Ausschusses solche Probleme verursacht habe. Die arme Inez hat mich heute Nachmittag angerufen und gesagt, keiner hätte gemerkt, dass es etwas mit mir zu tun hatte, aber Sylvia hat es natürlich gewusst.«

»Sie ist mit uns zur Schule gegangen«, hob Joley hervor.

Hannah kam ins Wohnzimmer zurück, groß und blond und eine unglaubliche Schönheit, und sie wirkte so zerbrechlich, als sei sie aus Porzellan. »Macht euch wegen Sylvia keine Sorgen. Bestimmt tut es ihr jetzt schon sehr leid, dass sie Abbey geohrfeigt hat, da bin ich mir ganz sicher.«

Joley streckte beide Arme aus. »Komm her, Schätzchen, setz dich zu mir. Du siehst total kaputt aus. Es war sehr böse von dir, den armen Jonas so zu necken und ihn in dem Glauben zu wiegen, dass du schläfst.« Joley küsste Hannah auf die Wange. »Du gehörst wirklich ins Bett.«

»Ich konnte nicht schlafen«, gestand Hannah. »Ich möchte viel lieber mit euch allen zusammen sein.«

Joley strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Du hast Sylvia doch nichts Grässliches angetan, oder?«

Hannah riss ihre Augen weit auf, um Unschuld zu heucheln. »Ihr glaubt alle, dass ich ständig nur auf Rache aus bin.«

Sarah blieb vor der Küchentür stehen. »Das ist keine Antwort, du blutrünstige kleine Hexe. Ich will ganz genau wissen, was du mit Sylvia angestellt hast.«

Hannah lehnte sich an Joley. »Ich bin so froh, dass du zu Hause bist. Du bist viel netter zu mir als Sarah, die mich immer so streng ansieht.«

»Hannah Drake, was hast du Sylvia angetan?«

Hannah zuckte die Achseln. »Ich habe aus einer zuverlässigen Quelle die Information erhalten ...«

»Inez vom Lebensmittelgeschäft«, warf Abbey ein.

»Die ist doch nun wirklich zuverlässig«, hob Hannah hervor. »Ich habe gehört, dass Sylvia einen leuchtend roten Ausschlag auf der linken Gesichtshälfte hat. Er scheint die Form einer Hand zu haben. Ich fand das ziemlich angemessen.«

Sarah rieb sich mit einer Hand das Gesicht und versuchte, ihre jüngere Schwester mit strengem Blick anzusehen, ohne zu lächeln. »Du weißt ganz genau, dass wir unsere Gaben für nichts anderes als das Gute einsetzen dürfen, Hannah. Du riskierst Repressalien.«

Hannah streckte ihre Beine vor sich aus und lächelte Sarah zuckersüß an. »Man kann nie wissen, wie hilfreich eine demütigende Erfahrung für den Charakter eines Menschen sein kann.«

»Ich hole dir jetzt deinen Tee, aber ich hoffe, das ist alles nur ein dummer Scherz und ich werde nicht später beim Einkaufen mehr darüber hören.« Sarah wandte sich rasch ab, damit Hannah nicht sah, wie belustigt sie war.

Abbey drückte Hannahs Hand. »Du hast Sylvia doch nicht wirklich etwas angetan, oder?« Es gelang ihr nicht ganz, den hoffnungsvollen Unterton in ihrer Stimme zu verbergen.

»Trink deinen Tee«, sagte Sarah. »Und iss ein paar Plätzchen. Du bist zu blass. Matt und Damon kochen uns heute das Abendessen.«

»Habe ich etwas Wichtiges verpasst, während ich mich möglichst schwer gemacht habe, als Jonas mich die lange Wendeltreppe raufgetragen hat?«

»Nur, dass Matt sich etwas von der Schneekugel gewünscht hat«, sagte Joley. »Und wir sind alle ziemlich sicher, was für ein Wunsch das war.«

»Du bist so tapfer, Kate«, sagte Hannah. »Ich könnte niemals mit einem Mann zusammen sein, der derart beängstigend ist. Bei Männern mit solch kalten Augen und diesen schaurigen Stimmen will ich mich einfach nur noch zusammenrollen und unsichtbar werden.« Einen Moment lang schimmerten Tränen in ihren Augen. Sie sah Kate über den Rand ihrer Teetasse an. »Du dachtest, ich sei so tapfer, in die Welt hinauszugehen und mich anschauen zu lassen, während du dich entschieden hast, dich allen Blicken zu entziehen und die Welt in den Genuss deiner wunderbaren Geschichten kommen zu lassen. Aber jetzt bist du bereit zu versuchen, mit einem Mann ein wirkliches Leben zu führen.«

»Ich habe mich noch nicht dazu entschlossen«, gab Kate zu. »Ich fürchte nämlich, eines Tages wird er wach und begreift, was für ein Feigling ich bin. Aber du wirst bestimmt jemanden finden, Hannah.«

Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, eben nicht. Ich will mich nicht von einem Mann anschnauzen lassen, weil ich vergessen habe, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Oder dass er wütend auf mich ist, weil ich für Aufnahmen nach Ägypten fliegen muss. Und ich könnte niemals mit einem Mann zusammenleben, der ständig den Eindruck macht, als könnte er gewalttätig werden. Oder der auch nur dazu fähig ist, gewalttätig zu werden. Ich wäre vor Angst gelähmt.«

Kate legte ihre Hand auf Hannahs Knie. »Matt ist nicht fähig, eine Frau brutal zu behandeln. Er hat ausgeprägte Beschützerinstinkte, das ist etwas ganz anderes.«

»Genau das sagen alle auch über Jonas. Sie reden von seinen Beschützerinstinkten, aber in Wirklichkeit schikaniert er die Leute. Er wird seine Frau Tag und Nacht herumkommandieren.«

»Ich glaube, wenn sich Jonas jemals in eine Frau verlieben sollte, würde er Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sie glücklich zu machen«, sagte Kate. »Er kümmert sich um uns alle und wir sind manchmal die reinste Plage. Er hat einen Job und er arbeitet hart. Und wir erschweren ihm die Arbeit oft gewaltig. Es muss doch auch sehr beunruhigend sein, eine so starke emotionale Verbindung zu uns zu haben. Er ahnt, wenn wir in Schwierigkeiten stecken oder leiden, und bedauerlicherweise stecken wir ziemlich oft in Schwierigkeiten.«

Hannah seufzte. »Ich weiß. Er ist nur ein solches Ärgernis. Ich habe das Fenster im Eingang zugemacht. Zu viele Nebelschwaden sind ins Haus getrieben und das hat mir einen Schrecken eingejagt.« Sie rang sich ein unbehagliches Lachen ab. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich eines Tages vor dem Nebel fürchten würde.«

Kate stand auf und sah sich im Haus um. »Was soll das heißen, zu viele Nebelschwaden sind ins Haus getrieben?« Sie starrte aus dem Fenster aufs Meer hinaus. »Du hast sie gesehen? Du hast nicht geträumt? Wie haben sie ausgesehen?«

Sarah stand ebenfalls auf und begann unruhig im Zimmer umherzulaufen und die Fenster zu überprüfen.

»Es hat ausgesehen wie Nebel«, sagte Hannah. »Als ich die Treppe herunterkam, war ich, ehrlich gesagt, etwas unsicher auf den Beinen, und daher habe ich mich im Eingang ein paar Minuten auf den Boden gesetzt. Da habe ich gesehen, wie der Nebel durch das offene Fenster hereingekommen ist. Es schien normaler Nebel zu sein, eine dünne, längliche Schwade. Aber der Umstand, dass ich den Nebel im Haus sehen konnte, hat mich aus der Fassung gebracht. Deshalb habe ich das Fenster geschlossen.«

»Nichts kann ins Haus hereinkommen, Sarah«, sagte Abbey. »Es ist gesichert. Du weißt, dass das Haus uns immer beschützt hat.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Mom hat uns gesagt, wir müssten die alte Sprache der Drake-Schwestern lernen, und wir haben uns alle davor gedrückt und unsere Erwartungen in Elle gesetzt. Sie hat uns auch gesagt, wir müssten die Schutzvorrichtungen jedes Mal, wenn wir nach Hause kommen, erneuern, aber haben wir das etwa getan? Nein, natürlich nicht. Mit der Zeit sind wir immer nachlässiger geworden. Mom besitzt das Vorauswissen über zukünftige Geschehnisse, das wissen wir alle. Sie hat ihre Ahnungen angedeutet, aber wir haben ihre Anweisungen nicht ernst genug genommen.«

Abbey legte eine Hand auf ihre Kehle. »Glaubst du, die Wesenheit hat mich beeinflusst, meine Stimme gegenüber Jackson und gegenüber dem Ausschuss einzusetzen?«

Sarah nickte. »Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Keine von uns geht besonders gut mit dieser Situation um. Mit so etwas sind wir noch nie konfrontiert gewesen.«

»Und ich will auch nie wieder damit konfrontiert werden«, sagte Kate inbrünstig.

»Abendessen«, rief Matt aus der Küche. »Kommt alle und bringt Hannah mit. Jonas hat gesagt, sie müsste etwas essen.«

Hannah verdrehte die Augen. »Genau das meine ich, Kate. Männer versuchen ständig, Frauen herumzukommandieren. Es liegt in ihrer Natur, sie können nichts dafür. Wir wissen, dass das Ding im Nebel männlich ist, und ich wette, es ist ungeheuer aufgebracht wegen einer Frau.«

Sie machten sich alle auf den Weg in die Küche. Sarah und Kate stützten Hannah. »Was von ihm ausgegangen ist, das war in erster Linie Schuldbewusstsein, aber auch Kummer und Wut, das konnte ich ganz deutlich fühlen«, sagte Kate. »Ich konnte spüren, dass er Verbindung mit mir aufgenommen hat, aber er hat diese Verbindung abgelehnt, weil er das Gefühl hat, keine Vergebung verdient zu haben. Etwas Furchtbares ist passiert und er glaubt, dass ihn die Schuld daran trifft.«

»Warum ist er dann jetzt der Auslöser für furchtbare Dinge, die passieren?«, fragte Hannah.

»Ich weiß es nicht«, gestand Kate. »Aber es hat etwas mit Weihnachten zu tun. Sarah hat recht. Wir müssen jetzt wirklich  auf jede Kleinigkeit achten. Er darf nicht noch stärker werden, sonst können wir ihn nicht mehr aufhalten.«

Matt verbrachte den Rest des Tages damit, sich in die Einträge in den Tagebüchern zu vertiefen und dem unbeschwerten Geplänkel der Schwestern zu lauschen. Die Frauen schliefen, wachten auf und schliefen kurz darauf wieder ein. Damon und Sarah küssten sich bei jeder Gelegenheit und er verspürte einen gewissen Neid, weil er nicht das Recht hatte, seine Gefühle für Kate ebenso offen zu zeigen. Die Stunden verflossen und irgendwann konnte er an nichts anderes mehr denken als an Kate und daran, mit ihr allein zu sein.

Er ließ seinen Arm um ihre Schultern gleiten. »Es ist schon spät. Lass uns zu mir fahren.«

»Elle kommt heute Nacht. Ich würde gern auf sie warten. Sie sollte jetzt jeden Moment hier sein und wir haben nach dieser grauenhaften Begebenheit heute Morgen den größten Teil des Tages geschlafen«, erwiderte Kate.

»Der Nebel zieht auf«, sagte Matt. Er öffnete die Tür und schlenderte auf die breite Veranda, die sich um das ganze Haus zog, um auf das Meer hinauszuschauen.

»Elle sollte jeden Moment eintreffen. Sie hat gesagt, sie kommt um Mitternacht«, sagte Kate und betrachtete eingehend die Nebelschwaden, die vom Meer zum Land trieben. »Sie wird es gerade noch schaffen, bevor der Nebel die Schnellstraße erreicht.«

»Wer hat euren Weihnachtsbaum geschmückt?«, fragte Matt und deutete auf die enorme Douglastanne, die mit Lichtern und den verschiedensten Ornamenten bestückt war.

Kate lief die Stufen hinunter und blieb vor dem Baum stehen. Sie berührte eine kleine hölzerne Elfe. »Ist sie nicht wunderschön? Frank, einer der hiesigen Künstler, hat sie geschnitzt. Viele dieser Ornamente sind von einer Generation an die nächste weitergereicht worden.«

»Macht ihr euch keine Sorgen, dass sie hier draußen verwittern könnten?« Der Baum stand im Hof, der von zwei großen Hunden bewacht wurde. Es waren Sarahs Hunde. Niemand würde sich an ihnen vorbeischleichen und die Ornamente stehlen, noch nicht einmal die wertvolleren, aber die Meeresluft und der anhaltende Regen konnten den Christbaumschmuck ruinieren.

»Wegen des Wetters haben wir uns noch nie Sorgen gemacht«, sagte Kate in aller Unschuld. »Die Drakes haben immer einen Baum im Freien geschmückt und hoffentlich werden wir das auch weiterhin tun können.«

Der Nebel braute sich kreisend und brodelnd über ihnen zusammen, schlang sich um den Weihnachtsbaum, füllte den Hof aus und strömte vom Meer heran, als würde er von einer unsichtbaren Hand geschoben.

»Ich glaube, unser Erzfeind attackiert ein weiteres Weihnachtssymbol«, sagte Matt und deutete auf die Spitze der riesigen Tanne im Hof. »Wofür steht der Stern? Er hat doch bestimmt eine Bedeutung.«

Der Nebel schlang sich um die Zweige und verstärkte den Schein der Lichter durch den Dunst. Kate blickte zu dem Stern auf, als der Kurzschluss zustande kam und ein Funkenregen durch den Nebel niederging. Kurzzeitig leuchtete der Stern heller, ehe er vollständig erlosch. Kate, die noch zu dem Stern aufblickte, sah durch die Wolkenfetzen einen glühend hellen Stern über den Himmel rasen und zur Erde hinabstürzen. Sie erstarrte und jede Spur von Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Elle.« Sie flüsterte den Namen ihrer Schwester. »Er hat es auf Elle abgesehen. Deshalb ist er ins Haus gekommen. Er ist hinter Elle her.« Der Nebel schluckte die Straße und nahm jede Sicht.

»Was zum Teufel soll das heißen - er war im Haus?« Matt raste in dem Moment ins Haus zurück, als ihre Schwestern hinausgeeilt kamen, um sich Kate anzuschließen. Er nahm den Telefonhörer ab und rief Jonas an. Er hatte keine Ahnung, was Jonas tun konnte. In diesem dichten Nebel konnte niemand etwas sehen. Sie wussten nicht genau, wo Elle war, nur, dass sie schon in der Nähe sein musste. Sie hatte gesagt, sie träfe um Mitternacht herum ein. Nun war es kurz vor Mitternacht. Sie konnte durchaus auf dem schlimmsten Abschnitt der schmalen, gewundenen Schnellstraße sein, die nach Sea Haven führte.

Kate wirbelte herum und wandte sich der Stadt zu, als eine Glocke laut zu läuten begann. Der Klang hallte durch die Nacht. »Die Glocke ist das Symbol für sicheres Geleit, für Rückkehr. Sie ist jetzt hier. Sie ist auf der Schnellstraße und kehrt zu uns zurück. Kehrt in den Schoß der Familie zurück. Sarah ...« Sie griff nach der Hand ihrer Schwester. »Im Moment nähert sie sich den Klippen. Es ist zu spät. Selbst dann, wenn Hannah die Kraft hätte, den Wind zu befehligen, wäre es zu spät. Er warnt uns. Er sagt uns, was er vorhat. Weshalb sollte er das tun?«

Kate nahm die Verbindung zu ihrer jüngsten Schwester auf. Sie besaß nicht die größte telepathische Begabung unter ihren Schwestern, aber Elle war eine ausgeprägte Telepathin. Kate hörte Musik, Joleys kräftige, warme Stimme, die den Wagen mit ihren Klängen ausfüllte. Elles Stimme fiel in den Gesang ein. Elle fuhr langsam und kroch durch den dichten Nebel näher, da sie wusste, dass sie nur noch eine Meile von ihrem Zuhause entfernt war. Sie konnte absolut nichts mehr vor dem Wagen sehen. Ihr blieb keine andere Wahl als die, am Straßenrand zu parken und zu warten, bis der Nebel sich lichtete.

Elle bemühte sich, den Straßenrand zu sehen und zu erkennen, wo genug Platz war, um den Wagen von der Schnellstraße zu lenken, nur für den Fall, dass ein anderes Fahrzeug vorbeikam. Sie schlug das Steuer ganz behutsam ein, da ihr bewusst war, wie hoch die Klippe über dem tosenden Meer aufragte. Joleys Stimme war tröstlich und strahlte eine wohltuende Wärme aus, die verhinderte, dass die eisige Kälte in den Wagen eindrang. Elle schaltete den Motor aus und stieß die Tür auf, um ihre Orientierung wiederzufinden. Wenn sie in irgendeiner Richtung die Lichter sehen konnte, würde sie wissen, wo sie war. Sie wusste, dass es nach Hause nicht mehr weit sein konnte. Der Nebel hüllte sie ein, eine dichte, erstarrte Masse, die ungeheuer kalt war.

Kate holte tief Luft und versuchte, Elle zu erreichen, versuchte, sie vor der drohenden Gefahr zu warnen. Elle ließ eine Hand auf dem Wagen liegen. Was ist, Kate?

Kate verfluchte den Umstand, dass sie keine Antwort bilden und sie ihrer Schwester zukommen lassen konnte. Sie konnte lediglich den Eindruck von akuter Gefahr übermitteln. Sie alle wussten, wenn eine ihrer Schwestern in Gefahr oder erschöpft oder bedrückt war. Aber Kate besaß nicht die Fähigkeit, Elle tatsächlich mitzuteilen, dass etwas im Nebel war, etwas, das genug Gestalt angenommen hatte, um physischen Schaden anrichten zu können. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie ihr sagen sollte, dass sie im Wagen bleiben oder sich schleunigst davon entfernen sollte. Sie konnte nur hoffen, dass Elle ausreichend mit all ihren Schwestern in Verbindung stand und wissen würde, was vorging. Elle schlug die Richtung ein, die zum Haus führte, und setzte sich zu Fuß auf dem schmalen Pfad in Bewegung.

Matt raste an Kate vorbei in Richtung Schnellstraße. Der Nebel schluckte ihn augenblicklich. »Versucht den Nebel zu lichten, Kate«, rief er über seine Schulter zurück. Seine Stimme klang in dem dichten Dunst sogar in seinen eigenen Ohren gedämpft. Er kannte den Pfad. Im Lauf der Jahre war er diese Strecke oft genug gelaufen und er war sicher, das Elle dasselbe tun würde.

Jonas und Jackson setzten sich ebenfalls in Bewegung und alle rannten aus drei verschiedenen Richtungen zu Elles Hilfe herbei. Matt hatte jedoch keine Ahnung, ob einer von ihnen rechtzeitig kommen würde. Er wusste nur, dass ihm das Herz in der Kehle schlug und das Gefühl von akuter Gefahr so überwältigend war, dass er rennen wollte, so schnell er konnte, statt vorsichtig über den steilen, unebenen Pfad zu joggen.

Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK
titlepage.xhtml
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_000.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_001.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_002.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_003.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_004.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_005.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_006.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_007.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_008.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_009.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_010.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_011.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_012.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_013.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_014.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_015.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_016.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_017.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_018.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_019.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_020.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_021.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_022.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_023.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_024.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_025.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_026.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_027.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_028.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_029.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_030.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_031.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_032.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_033.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_034.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_035.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_036.htm